Der Fotograf P. Ambros Trafojer hinterliess ein einzigartiges Fotoarchiv im Kloster Muri-Gries. Seine Bilder dokumentieren ein halbes Jahrhundert Südtiroler Geschichte. Der Historiker Hannes Obermair zeigt in seiner neuen Publikation diese bislang unbekannten Perspektiven.
«Es war von Anfang an eine Überraschung», meint Historiker Hannes Obermair zur Vielfalt des Fotoarchivs. Der Senior Researcher am Forschungszentrum Eurac Research in Bozen ist Experte für Südtiroler Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er hat den Tausende von Fotografien umfassenden Bestand von P. Ambros Trafojer untersucht und macht ihn nun als Band 12 von «Murensia» unter dem Titel «Blicke von aussen – Blicke von innen» erstmals greifbar.
P. Ambros entdeckt die Kamera
P. Ambros wurde 1891 in Gries als Augustin Trafojer geboren, legte 1912 im Kloster Muri-Gries Profess ab und lebte bis auf Studienaufenthalte und wenige Reisen bis zu seinem Tod 1974 an seinem Heimatort im Kloster. Dort unterrichtete er an der hauseigenen theologischen Hochschule und hatte zu Lebzeiten weitere Aufgaben zu besorgen. So war er über Jahrzehnte Subprior und Archivar. In den 1920er-Jahren begann er intensiv und systematisch zu fotografieren.
«P. Ambros fotografierte buchstäblich alles, was ihm vor die Linse lief», sagt Obermair. Von Porträts über Postkartenmotive, Menschengruppen in vielfältigen Situationen, Gebäuden sowie Tier- und Naturbildern ist in seinem Fundus alles zu finden. Seine Werke dokumentierte er säuberlich mit Nummern und Einträgen zu Sujets mit Datum. Der erste Eintrag datiert von 1927, der letzte von 1974. Recherchen von Obermair zeigen, dass Trafojer bis Anfang der 1920er-Jahre auch schriftliche Formen der Dokumentation von Ereignissen und Befindlichkeiten nutzte, so beispielsweise Tagebücher. Diese versiegten jedoch zugunsten der visuellen Zeugnisse im Laufe der Zeit.
Weltgeschehen aus dem Klosterfenster
Die Welt, die P. Ambros erfuhr und fotografisch dokumentierte, war im Umbruch begriffen. In der österreichischen Doppelmonarchie aufgewachsen, erlebte er – dann bereits Mönch – die Niederlage Österreichs im Ersten Weltkrieg und die Einverleibung Südtirols in den italienischen Staat. Nach einer unter Mussolini faschistisch geprägten und für das Kloster turbulent verlaufenden Zwischenkriegszeit folgte mit dem Zweiten Weltkrieg eine weitere Krise. Ob in Form von Um- und Neubauten von Gebäuden und Strassen, Bomben, Panzern und Soldaten in Kriegszeiten, Paraden und Volksfesten: Das Zeitgeschehen zog buchstäblich am Grieser Dorfplatz vorbei. All dies hielt P. Ambros mit seiner Kamera fest, oft aus zurückgezogener Perspektive, vielfach aus seiner Zelle oder einem Klosterfenster fotografiert. Tagebucheinträge um das Ende des Ersten Weltkriegs zeigen, dass er dabei keineswegs ein emotional unbeteiligter Dokumentalist war. In dramatischen Worten beschrieb er die Kapitulation von Bozen, so unfassbar schien diese und der darauffolgende Untergang Österreich-Ungarns.
Blinde Flecken
In seiner kulturwissenschaftlich angelegten Arbeit untersuchte Obermair nicht nur die vorhandenen Fotografien, sondern fragte auch gezielt nach Leerstellen. Welche Szenen, die P. Ambros zweifellos gesehen haben musste, hielt er nicht fotografisch fest? Fotos von grossflächigen Kriegszerstörungen in Bozen, Häftlingsmärschen oder des nahen Durchgangslagers in der NS-Zeit konnte Obermair nicht entdecken. «Privatfotografie war in der Diktatur zum Wegschauen erzogen, im faschistischen Italien ebenso wie in den nationalsozialistisch besetzten Gebieten», resümiert er.
Obermair machte es sich zudem zur Aufgabe, den Trafojer-Bestand nicht nur zu beschreiben und historisch einzuordnen, sondern auch hinsichtlich der ästhetischen und bildtheoretischen Dimension zu ergründen. P. Ambros Trafojer fotografierte aus einer verborgenen, einsamen Perspektive. Er fotografierte Menschenmengen, ohne Teil von ihnen zu sein. Er zog sich darauf zurück, «nur Auge zu sein», und bezog als Fotograf eine «bescheidene, zurückgenommene Position des Betrachters», analysiert Obermair.
Zwischen Gebet, Arbeit und Fotografie
Ein besonders Spannungsfeld verortet Obermair zudem in der Berufung als Mönch und der Leidenschaft des Fotografen: Wie ging P. Ambros Trafojer als Mönch mit seinem Werk um? «Er funktionalisierte es, indem er es für das Kloster nützlich machte und sich gleichzeitig als Künstler zurücknahm.» Denn P. Ambros hat sein Werk von sich aus nie öffentlich gemacht. Im Kloster war seine Fotografie aber durchaus sichtbar: Er fertigte Passbilder der Mitbrüder und Postkarten für den Verkauf an und er nutzte die Fotos beispielsweise auch im Unterricht der Novizen.
P. Plazidus Hungerbühler, der P. Ambros zu Lebzeiten kannte, beschreibt ihn als Menschen, der es genau nahm, dabei aber Humor zeigte. Seine klösterlichen Pflichten habe er stets gewissenhaft erfüllt. «Er nutzte die Fotografie, um anderen Menschen Geschichte und Religion anschaulich begreifbar zu machen. Dabei war er bescheiden und unaufdringlich.» So gab es keinen Widerspruch zwischen seinem Mönchsein und seiner Leidenschaft. Die Kamera war in den Augen seiner Mitbrüder ein Teil von P. Ambros. Um sein Hobby neben all seinen Pflichten ausüben zu können, war er aber oft bis spät in die Nacht noch in der Dunkelkammer. «Er hat alle Filme und Glasplatten selbst entwickelt», erinnert sich P. Plazidus.
Einordnung des Trafojerschen Werks
Was ist der Wert dieses Fotobestands für die Region Südtirol - und wohl darüber hinaus? «Trafojers Werk ist das Archiv eines halben Jahrhunderts. Er hat viel mehr aufgenommen, als ihm wohl selbst bewusst war, und zeigt Informationen in einer Dichte, wie ich es sonst nicht kenne», sagt Obermair. Er ist überzeugt, dass seine Analyse erst ein Anfang zur Ergründung dieses Bestandes ist. Die vom Kloster eben in die Wege geleitete flächendeckende Erschliessung und Digitalisierung der Fotos wird weitere Einblicke in die Südtiroler und die klösterliche Geschichte ermöglichen, wie sie andere Quellen nicht bieten können. Das macht dieses einzigartige Werk so wertvoll.