Bislang war die Seelsorge der Benediktiner in Südtirol nicht erforscht. Die Kirchenhistorikerin Sr. Anna Elisabeth Rifeser kann nun dank akribischer Quellenarbeit nachzeichnen, wie stark die Mönche von Muri-Gries vor Ort verankert waren.
Als Abt Adalbert Regli 1843 die Klosteranlage in Gries in Tirol besichtigte, war ihm kaum bewusst, dass sein Konvent bald ein Pfeiler der katholischen Seelsorge im heutigen Südtirol sein sollte – und es bis ins 21. Jahrhundert bleiben würde. Für ihn stand vor allem eines im Zentrum: seine Benediktiner an einem Ort zu wissen, wo es nicht zu Klosteraufhebungen kommen würde, wie dies im Kanton Aargau 1841 der Fall gewesen war. Nachdem der Kaiser von Österreich, der Habsburger Ferdinand I., diesen Schutz versprochen hatte, übersiedelte ein Teil des Konvents ins ehemalige Augustiner-Chorherrenstift in Gries, heute ein Stadtteil von Bozen (Bolzano) in Südtirol. Am 24. Juni 1845 trafen die ersten Murenser Patres in Gries ein. Der andere Teil ihres Konvents wirkte in Sarnen (Obwalden), primär als Lehrer. Die Grieser Mönche hingegen verschrieben sich der Seelsorge, so wie dies bereits in Muri der Fall gewesen war. Das Weiterbestehen des Konvents war so gesichert.
Ein spiritueller Anker
Auch wenn sich die Mönche aus Muri in Gries in Sicherheit hätten wähnen können – die Angst vor einer erneuten Vertreibung war stets präsent. Gerade deshalb bemühten sie sich besonders um die lokale Verankerung. «Die Benediktiner in Gries verstanden sich nicht bloss als Sakramentenspender», sagt Sr. Anna Elisabeth Rifeser. «Sie engagierten sich umfassend in ihren Pfarreien.» Die Kirchenhistorikerin hat in über 800 Stunden Quellenarbeit die Tätigkeit des Konvents von Muri-Gries seit 1845 untersucht. Für die Neue Klostergeschichte Muri schreibt sie nun das Kapitel zur Seelsorge der Benediktiner von Muri-Gries im 19. und 20. Jahrhundert, eine für das Tirol ereignisreiche Zeit.
«Das Kloster und die Stiftskirche in Gries waren in der Zeit der Weltkriege für viele Menschen ein spiritueller Anker», sagt Rifeser. Die Mönche von Muri-Gries blieben, als im Ersten Weltkrieg der habsburgische Vielvölkerstaat unterging. Sie blieben, als das Tirol aufgetrennt und der Süden Italien zugeschlagen wurde. Sie blieben, als die Faschisten nach Bozen kamen und das Südtirol italianisierten. Sie blieben, als Bomben im Zweiten Weltkrieg auch den Ortsteil Gries trafen.
Förderer der Bildung
Rifeser selbst ist Südtirolerin, aufgewachsen im Pustertal nahe der österreichischen Grenze. Das Studium der katholischen Theologie absolvierte sie in Graz. Als 25-jährige trat sie bei den Tertiarschwestern in Brixen (Südtirol) ein und doktorierte dann in Innsbruck zur Frömmigkeitskultur der Tiroler Tertiarinnen, also zu ihrer eigenen Ordensgemeinschaft. «Bei meiner Forschung begegnete ich auch den Grieser Benediktinerpatres», sagt sie. «Sie förderten von Anfang an Bildung und auch die Kultur.»
Die Patres bemerkten, erzählt Rifeser, dass die Kinder und insbesondere die Mädchen in Gries grosse Wissenslücken hätten. Und so gingen sie auf die Tertiarschwestern zu und motivierten sie, erst 1847 in Gries und später in der oberhalb von Bozen gelegenen Pfarrei Jenesien eine Mädchenschule zu eröffnen. Die Schwestern hatten sich nämlich bereits seit dem 18. Jahrhundert in Brixen, Bozen und Kaltern um die Schulbildung der Mädchen gekümmert.
Rifeser kann in ihrer Untersuchung aber auch zeigen, wie sich die Benediktiner für Musikvereine einsetzten und Bruderschaften förderten, die als Bindeglieder zwischen Kirche und Zivilgesellschaft fungierten. Zudem hätten sie sich intensiv um Unterhalt und Ausbau der Kirchengebäude der Pfarreien gekümmert, für die sie zuständig waren. Neben der eigenen Pfarrei in Gries gehörten auch die Pfarrgemeinden in den oberhalb von Gries gelegenen Dörfern Jenesien und dem dazugehörigen Glaning sowie Afing, ferner die etwas weiter entfernten Pfarreien Unsere Liebe Frau im Walde, Senale, und Marling bei Meran zu den sogenannten Exposituren der Benediktiner von Muri-Gries.
Tagebücher erlauben Vertiefung
Einen vertieften Einblick in die seelsorgerische Tätigkeit in diesen teils abgelegenen Dörfern zu gewinnen, ist nicht einfach. Quellen dazu sind verstreut. Sie liegen im Diözesanarchiv, aber auch in verschiedenen Ordens- und Pfarrarchiven. Im Archiv von Muri-Gries etwa sind einige Tagebücher von Patres erhalten geblieben, die genau diesen Einblick ermögliche. Rifeser hat sie im Rahmen ihrer Recherchen ausgewertet. «Die Patres empfanden das Wirken in den abgelegenen Pfarreien teilweise als Eremitenleben», sagt sie. So etwa P. Meinrad Germann, der zwischen 1918 und 1932 während 14 Jahren zuerst in Jenesien, dann in Marling und später in Senale wirkte. «In seinem Tagebuch verhandelt er sehr persönliche Gedanken», sagt Rifeser. Manchmal seien die Kooperatoren, wie die Hilfsseelsorger in den Pfarreien hiessen, auch überfordert gewesen mit ihren vielfältigen Aufgaben vom Seelsorger bis zum Baumeister. «Es war eine Herausforderung, die pastoralen Anforderungen und die Verkündigung mit der Alltagsrealität und der monastischen Gottsuche zu verbinden.»
Viele Quellen ausgewertet
Tagebücher ermöglichen eine grosse Nähe zu den Patres. Wie bleibt die Forscherin dabei kritisch? «Für mich war es wichtig, für meine Forschung eine möglichst breite Palette an verschiedenen Quellen heranzuziehen und multiperspektivisch zu arbeiten», sagt Rifeser. Neben den Tagebüchern hat sie Kapitelakten und die Korrespondenz verschiedener Patres untersucht, aber insbesondere auch die Archive der verschiedenen Schwesterngemeinschaften, mit denen die Benediktiner Kontakt hielten, konsultiert. Insgesamt kommt sie zum Schluss: «Für die Grieser war die Benediktsregel die Richtschnur und so agierten sie als Seelsorger beziehungsweise als Seelenversorger.»