Nach der Aufhebung des Klosters St. Gallen war dessen Abt Pankraz Vorster heimatlos. Er reiste jahrelang umher und liess sich schliesslich in Muri nieder, wo er 1829 starb. Vor 100 Jahren wurde er exhumiert und in St. Gallen bestattet.
«Ein Traum meines Lebens verwirklicht sich!», notiert der St. Galler Stiftsbibliothekar Adolf Fäh am 17. Oktober 1923 in sein Tagebuch. Am 6. November doppelt er mit ähnlichen Worten nach. Was den Theologen und Kunsthistoriker fast zu Tränen rührt, sind die Schreiben aus dem Kanton Aargau, die ihn an den genannten Tagen erreichen: Die sterblichen Überreste des letzten St. Galler Abts Pankraz Vorster dürfen in Muri exhumiert und nach St. Gallen gebracht werden.
Viel Ruhe im Aargau
Pankraz Vorster kommt 1753 als Sohn eines Schweizer Söldnerheer-Hauptmanns und einer italienischen Gräfin in Neapel zur Welt, wächst in der heutigen Ostschweiz auf und legt als 18-Jähriger im Kloster St. Gallen Profess ab. 1796 wird er hier zum Fürstabt gewählt. – Dass er der letzte sein sollte, ist zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen.
Kaum ist er im Amt, beginnen die politischen Turbulenzen. Im Februar 1798 flieht Fürstabt Pankraz aus St. Gallen. Im Mai 1799 kann er während der Koalitionskriege für vier Monate zurückkehren, bevor er vor den französischen Truppen erneut ins Ausland flüchten muss. Die Schliessung und Aufhebung des Klosters, die der Grosse Rat des neuen Kantons 1805 veranlasst, kann er nicht abwenden. Rückblickend lässt sich gar zeigen, dass «wegen seiner hartnäckigen Verweigerung des Verzichts auf die Landesherrschaft» – so schreibt Lorenz Hollenstein im Historischen Lexikon der Schweiz – das Kloster nicht in die Zukunft geführt werden kann.
Ruhe und Verbündete findet er ab 1819 für die letzten zehn Lebensjahre schliesslich bei den Benediktinern von Muri. An der Klosterschule unterrichtet er naturwissenschaftliche Fächer und lebt «in stiller Zurückgezogenheit», wie Fäh ein Jahrhundert später notieren sollte.
«Wie ein zweiter Otmar»
Heute erinnert in Muri das «St. Galler Examen» an Pankraz Vorster. Seit Ende der 1820er-Jahre werden aus dieser Stiftung die besten Murianer Schüler – heute auch Schülerinnen – ausgezeichnet. Aber auch in der Kirche gibt es eine Erinnerung an den letzten St. Galler Abt: Am linken Pfeiler des Oktogons ist ein Epitaph zu finden, das den Lebenslauf des Abts beschreibt und mit den Worten schliesst: Obiit velut alter Othmarus exul VII Non Iul Anno 1829 in Monasterio Murensi Argoviae, expectans iustum dei judicium – «Er starb wie ein zweiter Othmar, als Verbannter, am 9. Juli 1829 im aargauischen Kloster Muri, in Erwartung des gerechten Gottesgerichts».
«Wie ein zweiter Otmar»: Diese Phrase ist es denn auch, die Fäh motiviert, für die Rückkehr des «Verbannten in seine Heimat» zu kämpfen, wie er in einem Bericht von 1923 schreibt. Otmar gilt nach Gallus als zweiter Gründer des Klosters St. Gallen. Denn er war es, der im Jahr 747 die Benediktsregel einführte. Später verbannte ihn der Konstanzer Bischof wegen eines Machtkonflikts auf die Insel Werd im Bodensee, wo er 759 auch verstarb. Erst ein Jahrzehnt später wurde er rehabilitiert, die Gebeine wurden nach St. Gallen überführt. So wie Otmar also solle auch Pankraz wieder nach St. Gallen geholt werden, findet Fäh. Und macht sich diese Herausforderung zur Lebensaufgabe.
Suche nach Pankraz’ Grab
Den entscheidenden Durchbruch bringt das Jahr 1923. Am 25. September reist Fäh nach Muri. Zwar ist das Epitaph am Pfeiler gut sichtbar, doch wo sich das Pankraz-Grab genau befinden könnte, weiss hier niemand mehr. Zusammen mit dem Pfarrhelfer und dem Kustos macht sich Fäh auf die Suche. Erst als der Holzboden, der über den unebenen und kalten Steinplatten liegt, gehoben wird, finden die Männer die Grabplatte Vorsters.
Der Kunstsachverständige Fäh besichtigt aber auch den Rest der Kirche. Insgesamt hält er sie für ein «wunderbares Juwel». Doch in seinen persönlichen Notizen ist er auch kritisch. Der Chor sei «in einem schwülstigen Barock behandelt» worden, die Fresken seien «barbarisch renoviert». Über die feinen Holzarbeiten, etwa die Zugänge zum Chor oder das Stifterdenkmal, notiert er hingegen Positives.
Ein Traum wird Wirklichkeit
Da Fäh nun weiss, wo sich das Grab Vorsters befindet, macht er sich an die Gesuche an den Kanton Aargau, bis 1941 Besitzer der Klosterkirche. Am 26. November 1923, nur zwei Monate nach seiner ersten Reise nach Muri, ist es so weit. Fäh ist am Vortag angereist und notiert am frühen Morgen: «Ich muss mich oft fragen, ob alles Wirklichkeit oder nur ein Traum sei, denn, was ich seit einem Jahrzehnte erhoffte, erstrebte, soll Wirklichkeit werden.»
Um 7.15 Uhr hält Priester Fäh eine Messe, und ab 8 Uhr machen sich Pfarrer Kohler von Muri, Kantonsbaumeister Albertini und dessen Adjunkt Wipf, Bezirksamtmann Wey, der Murenser Arzt Keller sowie der ebenfalls lokale Baumeister Frey und seine vier Arbeiter ans Werk. Sie rücken die Bankreihen im linken Kirchenschiff zur Seite, heben die Grabplatte und beginnen zu schaufeln. Erst nach 1 Meter und 60 Zentimetern kommen die Gebeine zum Vorschein, «die so complet waren, dass man das Skelett hätte zusammenstellen können». Fähs Blechbüchse ist gar «zu klein, um alle Gebeine aufzunehmen», und der Kustos muss ein Holzkistchen organisieren, damit Pankraz Vorsters sterbliche Überreste ganz gehoben werden können.
Bestattung in St. Gallen am 30. November vor 100 Jahren
Endlich also hat Fäh seinen «zweiten Otmar» bei sich. Am gleichen Tag noch besucht er das Kloster Hermetschwil und übernachtet in Bremgarten, bevor er am 27. November nach St. Gallen zurückreist. Am Vormittag des 30. Novembers lässt er die beiden Kisten versiegeln, in einen schwarzen Stoff einhüllen und mit schwarzen Schnüren verbinden. Um 11 Uhr dann findet in der Kathedrale St. Gallen die «schlichte, familiäre Trauerfeier» im Beisein Fähs, des Bischofs sowie weiterer drei Männer statt.
Fürstabt Pankraz Vorster hatte damit seine zweite Ruhestätte gefunden – nach 94 Jahren in Muri ist er nun seit 100 Jahren in St. Gallen begraben.
Besten Dank an Karl Schmuki, St. Gallen, für die Recherche.