Zum Zeitpunkt seiner Aufhebung 1841 befanden sich im Kloster Muri über 900 Musiknoten. 1847 wurden sie auf verschiedene Institutionen im Kanton Aargau verteilt – allerdings nicht alle: Einige waren schon vorher nach Gries in Südtirol gelangt.
von Claudio Bacciagaluppi
Bis zur Romantik war Kunstmusik selten Selbstzweck, sondern hatte immer eine Funktion. In der Musiklandschaft der konfessionell gemischten alten Eidgenossenschaft dominierten die Katholiken mit ihren Orgeln und ihrer aufwändigen Kirchenmusik gegenüber den eher bescheidenen Reformierten. Eine professionelle musikalische Umrahmung war nicht nur für den Gottesdienst zweckmässig, sondern auch propagandistisch erwünscht. In der Schweiz hatten nicht wie etwa in Frankreich die Kathedralen, sondern die Klosterkirchen musikalisch eine grosse Ausstrahlung, etwa die Zisterzienser in Wettingen und St. Urban sowie die Benediktinerinnen und Benediktiner in Einsiedeln, Engelberg, St. Gallen, Sarnen und Muri.
Die Patres pflegten während Jahrhunderten neben dem liturgischen Gesang auch die mehrstimmige Kirchenmusik. Traditionell wurden Musikalien nicht in einer Bibliothek, sondern in einem Notenschrank am Ort der Aufführung versorgt, auf der Orgelempore in einer Kirche oder in einer Ecke des Musikzimmers einer Schule. Auch in Muri lagen zumindest einige der Noten «im Gang bei der kleinen Orgel». Einen Katalog, wie er für Bibliotheken üblich war, brauchte es dafür nicht.
Begehrte und verteilte Noten
Bereits am 22. Februar 1841 hatte «Herr Organist Schernberg Gesuch um Verabfolgung von Kirchenmusikalien der aufgehobenen Klöster für den katholischen Cultus zu Aarau» eingereicht. In den folgenden Monaten kamen auch Anfragen der Musikgesellschaften Zofingen und Baden für die im Kloster verbliebenen Musikinstrumente. Am 23. November 1843 beschloss schliesslich der Kleine Rat, «die in den Räumlichkeiten der aufgehobenen Klöster Wettingen und Muri noch vorfindlichen Kircheninstrumente und Kirchenmusikalien sowohl der hiesigen als den übrigen katholischen Kirchen des Kantons zum Gottesdienstlichen Gebrauche zuzutheilen und eine daherige Liquidation anzuordnen».
Bemerkenswert ist dabei, dass die Musikalien zunächst zusammen mit anderen Kulturgütern wie Paramenten und sonstigen Utensilien als Gebrauchsgegenstände im Gottesdienst behandelt wurden. So besorgte im Februar 1844 Kaplan Huwiler aus Mühlau ein erstes Verzeichnis, worauf die verschiedenen Bezirke des Kantons die Bedürfnisse der einzelnen Kirchen meldeten. Im Februar 1846 wurde Daniel Elster, damals Musiklehrer am Seminar in Wettingen, mit der Erstellung eines Inventars der Musikalien und Musikinstrumente sowie mit einem Vorschlag zur Verteilung der Güter beauftragt. Bereits im April desselben Jahres legte Elster dem Rat einen Bericht vor. Dazu gehörte auch ein ausführliches Inventar mit insgesamt etwa 1400 Titeln von Musikalien aus den beiden Klöstern, davon mehr als 600 aus Muri. Die Musikalien und die Musikinstrumente wurden der Kantonsbibliothek Aarau, dem Lehrerseminar Wettingen und der Bezirksschule Muri sowie achtzehn Pfarrkirchen im Kanton zugeteilt. Den Pfarrkirchen kam, laut Elsters Vorschlag, das im Gottesdienst noch Brauchbare zu, den beiden Schulen das Kammermusikalische. Der Aargauer Kantonsbibliothek wurde der Rest übergeben – also alles, was weder in einer Kirche noch für den Unterricht zu gebrauchen war.
Brauchbare und unbrauchbare Musik
Dieser «unbrauchbare» Rest ist heute noch erhalten. Die Bestände sind dank Elsters Nummerierung in der Kantonsbibliothek leicht zu erkennen. Zum Bespiel trägt eine Messe des Neapolitaners Gregorio Sciroli die Nummer 55 im Inventar und die gleiche Nummer auf dem Umschlag des Stimmensatzes, der nach Papierart und Handschrift zu urteilen in Neapel selbst entstanden ist. Eine Symphonie Johann Christian Bachs in Es-Dur kann aus einem anderen Grund dem Bestand von Muri zugewiesen werden: Der Kopist dieses Stimmensatzes hinterliess seinen Namen, P. Johann Baptist Heinzer.
Spannend ist weiter die Frage, was Elster für brauchbar hielt. Den Pfarrkirchen wurden meist kirchenmusikalische Noten (aber auch solche von Symphonien) aus Süddeutschland und dem Habsburgerreich zugewiesen. Viele waren gedruckt und kamen aus den grossen Musikverlagen in Augsburg und Wien. Unter den Komponisten waren zum Beispiel die Deutschen Franz Bühler, Johann Melchior Dreyer, Marianus Königsperger und die Österreicher Anton Diabelli, Adalbert Gyrowetz und Johann Baptist Vanhal. Das Lehrerseminar in Wettingen erhielt aus Muri Klavierwerke u. a. von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, aber auch ältere Orchester- und Kirchenmusikwerke, die vielleicht für die angehenden Lehrer als Studienpartituren gedacht waren: Symphonien von Joseph Haydn, eine Messe von Adolph Hasse, eine Motette von Francesco Feo.
Komponisten aus Muri in Gries
Doch war dies nicht alles, was in Muri damals an Musiknoten vorhanden war. Heute befinden sich in der Musikbibliothek des Klosters Muri-Gries rund 250 Signaturen mit Musikalien, die aus Muri stammen. P. Beda Szukics konnte die Herkunft dank der Identität der Schreiber und Vorbesitzer bestimmen.
Bei einigen Quellen handelt es sich um liturgische Gesänge, welche die Patres wohl ins Exil mitnehmen durften, weil sie diese für den täglichen Gottesdienst brauchten. Die meisten sind jedoch Handschriften und Drucke von mehrstimmiger Kirchenmusik. Auffällig sind in diesem Bestand die Klosterkomponisten aus Muri, so etwa Bernhard Hüsser (1636–1691), Urs Steinger (1646–1672) und Gerold Jauch (1773–1824). Von den älteren Autoren sind die Noten in Muri-Gries in einigen Fällen die einzigen erhaltenen Quellen zu ihren Werken. Die jüngeren Patres Gerold Zwyssig und Luitfried Berger bemühten sich, das alte Repertoire nach der Übersiedlung nach Gries aufrechtzuerhalten.
Luitfried Berger, letzter Kapellmeister in Muri
Auffällig ist ferner, dass es unter den Quellen aus Gries keine Überschneidungen mit dem Inventar von 1846 gibt: Sie wurden also schon vorher dem ursprünglichen Bestand entnommen. Wieso durften die Patres sie mitnehmen? Über hundert Musikalien in Gries wurden vom letzten Kapellmeister in Muri, Luitfried Berger, entweder abgeschrieben oder komponiert. Zumindest für diese ist die Erklärung bekannt. Am 24. September 1841 schrieb P. Luitfried an die Klostergutsverwaltung: «Über zwanzig Jahre war die Musik mein Lieblingsfach. Ich habe während dieser Zeit Vieles geschrieben und gekauft. Nun habe bey dem Austritt aus dem Kloster noch viele Musikalien zurückbelassen, die ich theils geschrieben, theils gekauft und selbst bezahlt, und theils verehrt bekommen habe, weil sie mich bey selben Umständen nicht besonders angesprochen haben. Lege hier ein Verzeichniss derselben bey, und reclamiere sie mit Gegenwärtigem.» Vermutlich hatte seine Anfrage Erfolg, auch weil er die Noten als Privatbesitz deklarieren konnte. Das Verzeichnis ist aber leider nicht mehr vorhanden. Es muss deshalb offenbleiben, ob alle Murensia in Gries ursprünglich P. Luitfried gehörten oder ob Musikalien auch von anderen Patres stammten.
Nachschlagewerke zur Musikgeschichte
Das RISM Schweiz (Répertoire International des Sources Musicales) erschliesst die in Schweizer Bibliotheken und Archiven überlieferten handschriftlichen und gedruckten Noten und Schriften über Musik nach international verbindlichen wissenschaftlichen Normen. RISM Schweiz leistet einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des musikalischen Kulturgutes der Schweiz. Ein bedeutender Teil dieses Kulturguts stammt aus Klöstern wie Muri.
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Für das Kloster Muri-Gries:
Link zum Katalog der klösterlichen Musikbibliothek
Link zum Bestand im Staatsarchiv Aargau (Zitate im Text)